Höhle, Hylé und Calzone
Text im Katalog raum schwankt himmel fährt
Michael Hübl, 2021
Manche Menschen, ist zu hören, sollen beim Besuch einer Pizzeria gleich mal mit einem Kalauer loslegen: „Es geht auch ohne – Calzone!“. Unklar bleibt, ob sie mit ihrem Spruch den Grad ihrer Fußbekleidung meinen; immerhin lässt sich calzone mit große Socke übersetzen. Gemeinhin allerdings ist mit dem Begriff eine besondere Sorte Pizza gemeint, die zusammengeklappt und an den Rändern festgedrückt wird, damit beim Backen ja nichts nach außen quillt. Deshalb kann es sein, dass hinter dem „Es geht auch ohne“ die insgeheime Furcht vor dem Inhalt der opulenten Teigtasche steckt: Wer weiß, was sich alles in ihr verbirgt?
Carolina Kreusch nennt eine ihrer Arbeiten „Calzone“ – und widerspricht mit deren Gestaltung beinahe sämtlichen landläufigen Vorstellungen, die mit der Bezeichnung einhergehen. „Calzone“ ist flach, plan, ganz und gar eben. Eine Wandarbeit, eckig und kantig zugeschnitten aus einer MDF-Platte, die unregelmäßig in kleinere und größere geometrische Felder eingeteilt ist. Einige von ihnen sind homogen mit Farbe bedeckt, andere von schwarzen, weißen, farbigen Streifen vielschichtig überzogen. Das Zusammenspiel dreieckiger, trapez- und rautenförmiger Flächen suggeriert zusammen mit den Richtungswechseln Räumlichkeit.
Es ist, als würde sich die Platte an mehreren Stellen aufwölben, würde Blasen werfen wie der Teig einer Calzone. Womit sich denn doch eine Analogie zur gastronomischen Bezugsgröße des Titels der Arbeit ergäbe. In dieser Hinsicht könnte man, wenn man das Spiel mit Analogien auf die Spitze treiben wollte, auch die visuelle Fülle anführen, die Kreusch in vielfältiger farblicher und formaler Verflechtung ausbreitet. Das entscheidende Moment liegt jedoch in der illusionistischen Dreidimensionalität der facettenreichen Tafel. Auch wenn sich die Künstlerin seit den späten 2010er-Jahren stärker auf die Fläche konzentriert als früher, so versteht sie sich doch weiterhin als Bildhauerin.
Nur, dass in dieser gleichsam zweidimensionalen Werkphase an die Stelle von voluminösen Objekten Arbeiten treten und die Ausdehnung im Raum mit anderen Mitteln demonstriert wird. „Calzone“ ist da noch eine relativ verhaltene Angelegenheit, während sich in „Knüller“ das explosive Potenzial von Kreuschs Methode entfaltet, mit der sie den Eindruck von Räumlichkeit durch geometrische Elemente zu erzeugen sucht. Schon im Titel deutet es sich an. Als Knüller gilt etwas, das Furore macht – ein Hit, eine Sensation. Die Sprengkraft, die er impliziert, hängt eng mit der Tätigkeit zusammen, auf die das dazugehörige Verb verweist: knüllen heißt, ein Material (Papier, Plastikfolie) oder ein Textil (Hemd, Handtuch) durch Zusammenpressen in eine locker klumpige Form zu bringen. Je nach ihrer physikalischen Beschaffenheit können manche als sperrig einzuordnende Stoffe dazu tendieren, die ihnen zugeführte Energie wieder abzugeben, indem sie sich wieder ausdehnen.
In diesem Sinne ist Kreuschs „Knüller“ konzipiert. Zerknittert, zerknüllt, geknautscht wird hier zwar nichts. Als Kernstück fungiert ein vollkommen schwarzes 14-Eck. Mit seinen ungleich langen Seiten erinnert es an eine auf dem Reißbrett per Lineal konstruierte Abstraktion einer Knolle. Aber es entwachsen ihr – um im Bild zu bleiben – fünf mehr oder weniger farbige Sprossen. Oder soll man an eine interstellare Basisstation denken, die ihre Satelliten ins All aussendet? Schließlich umfasst die Arbeit vier keilförmige Elemente, die aussehen, als seien sie aus dem 14-Eck herauskatapultiert worden: Der „Knüller“ entlädt sich, und das mit solcher Wucht, dass Teile von ihm abgespalten und in den Raum geschleudert werden.
Räumlichkeit wird hier wie auf einem Schaubild vor Augen gestellt und nicht durch einen jener tentakulös ausgreifenden kompakten Gegenstände, die einen zentralen Platz im Werk von Carolina Kreusch einnehmen und die die Künstlerin bei Gelegenheit mit der architektonischen Umgebung vernetzt und verspannt hat. „Knüller“ ist das in der zweiten Dimension realisierte Pendant zu Plastiken wie „Lobstershow“ oder „Neuronerv“. Bemerkenswert das Schwarz der unregelmäßig gekanteten Hauptfläche. Denn: In der Kunst des 20. Jahrhunderts wurde der Farbe Schwarz ein herausragender Rang beigemessen. Fast schon zum Gemeinplatz ist Kasimir Malewitschs Rede vom „Keim aller Möglichkeiten“ 1 geworden, den der russische Suprematist in seinem schwarzen Quadrat erkannte. Und Pierre Soulages betonte einmal: „Schwarz ist der Ursprung von allem“, um unter Hinweis auf das pränatale Dasein im Uterus erläuternd hinzuzufügen: „Wir kommen aus der Dunkelheit, dem Schwarz.“ 2
In „Knüller“ stammt das matte Schwarz aus industrieller Produktion; hier wurde Autofolie über eine Spanplatte gespannt. Das Schwarz übernimmt die Funktion des höhlenähnlichen Inneren von Kreuschs sich zusammenballenden und ausbuchtenden Objekten. Dieses Innere ist nicht bloß Hohlraum wie etwa bei einer Bronzeplastik, die schon aus Kostengründen nicht als Vollguss, sondern als eine Art dicke metallene Epidermis gefertigt wird. Innen ist ein solches Bronzeobjekt, eine Figur oder Büste, leer, und diese Leere ist für das Verstehen des Kunstwerks ohne Belang. Nicht so bei den Plastiken von Carolina Kreusch. Hier ist alles darauf ausgerichtet, die Aufmerksamkeit auf deren Innenwelt zu lenken. Das beginnt damit, dass die Außenhaut der Arbeiten oftmals aus unzähligen Kartonstücken zusammengesetzt ist: Man denkt an eine Panzerung, durch die etwas Besonderes, Kostbares geschützt wird. Bei einem Schuppentier wäre das der Organismus mit seinen Weichteilen, Blutgefäßen und Nervenbahnen. Bei Werken wie „Lobstershow“, „best off“ oder „Neuronerv“ beruht die Kostbarkeit in der Präsenz des Ungewissen.
Kreuschs plastische Arbeiten geben zu verstehen, dass sie Hüllen sind – ästhetisch interessant und reflexionsfördernd, aber eben doch Hüllen. Ihr Inneres geben die Objekte nicht preis. Es ist zwar wahrscheinlich, dass sie nichts weiter bergen als leere Dunkelheit: Definitiv wissen können es die im Wortsinn Außenstehenden nicht. Sie erhalten keinen Einblick, obwohl sie doch durch auffällig angebrachte (nicht immer erreichbare) Öffnungen dazu herausgefordert werden hineinzuschauen und herauszufinden, ob das Kunstwerk womöglich die bare Ummantelung eines Sachverhalts darstellt, der sich vorschneller Entschlüsselung entziehen will.
Die Quintessenz dieser Arbeiten wäre demnach: Wirklichkeit ist nichts, das sich auf einen einzelnen Nenner bringen lässt. Vielmehr setzt sie sich wie das geschuppte Äußere von „Lobstershow“, „best off“ oder „Neuronerv“ aus einer Vielzahl von Bausteinen zu einer Gesamtheit zusammen, bei der trotz ihrer Kohärenz, fortwährend mit Unerwartetem und Unbekanntem zu rechnen ist. Kreusch hat diesen Grundansatz in Arbeiten wie „Spion“, „scheints“ und „Maria“ fortentwickelt. „Spion“ verdinglicht durch die Form und unterstreicht durch den Titel das Motiv des intensivierten Hinsehens: hellblau, grasgrün, zitronengelb und in anderen Farben lackiertes dünnes Balsaholz ist zu einem Gebilde zusammengefügt, das in den Raum ragt und von einem Ring aus roten und weißen Holzstreifen bekrönt wird, als umschließe er das Okular einer Überwachungskamera. Man kann aber auch ein Nest assoziieren oder eine Knospe, die von einer Blüte abgefallen ist, wie es die Installation „Adjektiv von Zebra“ nahelegt. In „scheints“ treibt Kreusch die Fokussierung des Blicks weiter, indem sie schmale bunt bemalte Sägereste auf eine zentrale Öffnung hin ausrichtet.
Die Ähnlichkeiten mit den Monstranzen, die der katholischen Kirche als liturgisches Gerät dienen, fällt nicht nur hier, sondern auch in „Maria“ auf – einer Installation, an der sich exemplarisch die gezielte semantische Vieldeutigkeit (Polyvalenz) ablesen lässt, die Kreuschs Arbeiten als konstitutives Paradigma zugrunde liegt. Wieder ist da ein Strahlenkranz, wobei die Künstlerin diesmal offensichtlich mit Kontrasten operiert: leuchtendes Gelb gegen gedämpftes Grau, Hellgrau versus Schwarz. Den Fokus hat Kreusch aus der Mitte gerückt und wie bei ihrem „Spion“ eigens markiert. Nur, dass es sich bei „Maria“ nicht um kreisförmig geordnetes abwechselnd rotes und weißes Balsaholz handelt, sondern um einen Kranz aus rot bemalten spitzigen Hölzchen. Zieht man den Titel der Arbeit in Betracht, kann man in dem sperrigen Gefüge eine Anspielung an die Dornenkrone Christi sehen. Und die beiden roten runden Formen auf den stilisierten Stengeln, die ebenfalls Teil der Installation sind, lassen sich mariologisch interpretieren, wenn man sie als Rosen versteht, einem der mächtigsten Symbole, die mit der Mutter Jesu in Verbindung gebracht werden, angeregt vom Hohelied Salomos: „Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen“ (Hld 2,2).
Die eigentliche Überraschung an Kreuschs „Maria“besteht freilich darin, dass das Kunstwerk ein Kunstwerk birgt. Der monstrazartige Kranz überdeckt einen kräftigen Holzrahmen, der eine Zeichnung hinter Glas umschließt. Sie ist nur partiell zu erkennen, verrät aber wenigstens so viel, dass Kreusch auch mit grafischen Mittel Sachverhalte schafft, deren Komplexität sich allenfalls ansatzweise auflösen lässt. Selbst dort, wo sie offen daliegen, bleiben sie so rätselhaft wie die Objekte der Künstlerin, die den Blick in ihr höhlenartiges Innere ziehen und sich einem Ergründen zugleich meist verweigern.
Zwischen den Begriffen Höhle, Hülle und der altgriechischen Hylé besteht ausweislich einschlägiger Handbücher kein direkter etymologischer Zusammenhang. Im Werk von Carolina Kreusch ergibt er sich. Hylé meint bei Aristoteles das große Ganze der noch ungestalteten Materie, die darauf wartet, erschlossen und geformt zu werden. Dass dabei grundsätzlich mit Dingen zu rechnen ist, die unvorhersehbar waren oder aus Befangenheit in Wahrnehmungskonventionen übersehen wurden – daran erinnern die Arbeiten von Carolina Kreusch. In jedem ihrer bauchig sich auswölbenden Objekte, die Höhlen umhüllen, ist etwas von aristotelischer Hylé. Manchmal ist eine "Calzone" darunter.
Anmerkungen
1 zit. nach Jewgeni Kowtun: „Sieg über die Sonne“ Materialien, in: Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts (= Schriftenreihe der Akademie der Künste Band 15), Fröhlich & Kaufmann, Berlin 1983, S. 48 ↲
2 Pierre Soulages: Wunschlos verliebt in Schwarz. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, in: KUNSTFORUM International, Bd. 267, Köln 2020, S. 182-197, hier S. 185 ↲