in medias res


Michael Hübl, 2021


Ich beginne mit einem Objekt, das durch seine leuchtende Farbe, seine Platzierung, sowie durch seine absolut simple Form auffällt. Das Objekt leuchtet knallgelb und sieht aus wie ein überdimensionaler Papierflieger, der mit einer Wand hier im Raum kollidiert ist. Befänden wir uns im Herbst 2001, würde der eine oder die andere von Ihnen vielleicht eine Anspielung auf den New Yorker Terroranschlag von 9/11 vermuten. Aktuell, unter dem Vorzeichen der Pandemie, läge es näher, an einen insgeheimen Hinweis auf das gesteigerte Paketaufkommen zu denken, das die Anti-Covid 19-Maßnahmen nach sich gezogen haben; Stichwort Onlinehandel. Auch wenn sich das Gelb des spitzen Fliegers nicht unbedingt als DHL-Gelb identifizieren lässt. Aber auch das Stichwort „Digitaler Wandel“ käme in Frage. Wird doch der Papierflieger bei einigen Internet-Diensten als Sendesymbol im E-Mail-Verkehr genutzt.

Alles so weit plausibel. Immerhin gehört es zu den Qualitäten von Kunst, dass sie Denkanstöße gibt und/ oder Assoziationsprozesse aktiviert. Gleichwohl würde ich gerne bescheidener ansetzen. Würde den Papierflieger aus seinem gleichsam globalisierten Bedeutungsorbit hinabgleiten lassen in die Niederungen eines banalen Schulalltags. Denn das ist es doch, was Carolina Kreuschs gelbes Objekt zuerst evoziert: das Bild gelangweilter Bengel beiderlei Geschlechts, denen ihr Lernstoff ultraschnurzegal ist und die in unterrichtsresistenter Indolenz eine Luftwaffe aus Papierseglern falten.

Carolina Kreusch ruft also mit ihrer Arbeit den Kontext Schule auf - und stellt damit einen sehr konkreten Bezug zu diesem Ausstellungsraum her. Der war vor seiner Profanierung im Jahr 2018 eben nicht ‚nur‘ eine Kirche, sondern eine Studienkirche. Das heißt, sie war ein Gotteshaus für Lernende. Und auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass zu Zeiten des Jesuitenkollegs Papiersegler durch die Barockgewölbe flogen, so bringt doch Kreusch mit ihrem gelbem Objekt die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes in Erinnerung.

Das ist eines der Wesensmerkmale dieser Ausstellung. Carolina Kreusch geht immer wieder auf diesen Ort und seine Vergangenheit ein. So hat sie etwa an zentraler Stelle eine aus hellen und dunklen dreieckigen Teppichbodenstücken zusammengefügte Bodenarbeit ausgelegt; man darf sie als Paraphrase auf die Mosaiken und Steinintarsien verstehen, die in etlichen, nicht nur christlich geprägten, Sakralräumen zu finden sind. Werfen wir einen Blick auf die Unterseite der Kanzel. Dort hat die Künstlerin so etwas wie einen Fächer angebracht, der mit starken Farben, aber auch mit schmalen schwarzen Flächen bemalt ist. Er sieht aus wie eine Anspielung auf die ringförmig angeordneten Streben, die den Unterbau der Kanzel bilden.

Die Farbauffächerung ist extrem prachtvoll: pink, türkis, grün, violett, hellblau. Fast möchte man meinen, ein Rad schlagender Pfau habe Pate gestanden. Dann wäre die Arbeit ein heiterer, wenn nicht gar ironischer Kommentar zur Architektur der Kanzel. Was durchaus passen würde. Denn Ironie, subtiler Witz und der Wille, ernsthaft, aber nicht bierernst an die Dinge heranzugehen - das sind essenzielle Ingredienzien der Kunst von Carolina Kreusch. Schon das knallgelbe Flugzeugobjekt offenbart ja etwas von dieser Haltung.

Aber heitere Scherzaffinität ist nur eine der Eigenschaften, die Carolina Kreusch in ihre Arbeiten einfließen lässt - sofern es ihr im Einzelfall opportun scheint. Ein weiterer wichtiger Aspekt zeigt sich in dem Objekt, das unterhalb der Kanzel angebracht ist. Es fällt durch eine goldschimmernde ovaloide Fläche auf. Mindestens genauso bemerkenswert jedoch ist die Halterung, mit der es montiert wurde. Halterung ist zuviel gesagt. Es sind eher spärliche, schäbige Holzlatten, die da Verwendung fanden. In ihnen offenbart sich ein weiteres wesentliches Merkmal der Arbeiten von Carolina Kreusch. Nicht selten scheint es, als bedürften ihre Werke der Unterstützung, als müsste die Künstlerin Hilfestellung leisten. Das ist die andere Seite: So glanzvoll, strahlend, freudenspendend sich die Welt auch darstellen mag, so ist sie sie doch genauso anfällig für Fissuren, Risse, Brüche.

Ein Beispiel für diese Dialektik liefert Kreusch mit einem Werk, das wie eine Monstranz vorwiegend orange- roter Farbigkeit in den Raum sendet. Wie wird die feierliche Pracht hoch gehalten? Durch eine lange, billige Kiefernholzlatte, die an einem dunklen klumpfußigen Betonblock Halt findet. Nebenan geht es nicht viel anders zu. Eine farbintensive Komposition aus geometrischen Bildelementen hat Kreusch wie ein Banner aufgestelzt. Erneut hat sie schmale Latten verwendet, um das Werk aufzurichten.

Vor dem Hintergrund dieser Arbeit möchte ich auf eine Veränderung aufmerksam machen, die sich über die Jahre hinweg im Oeuvre der Künstlerin vollzogen hat. In jüngerer Zeit entstehen vermehrt flächige Werke, in denen markante Farbfelder miteinander verzahnt sind. In einer früheren Werkphase hingegen hat Kreusch wiederholt Fundstücke genutzt. Das markanteste dieser ‚objéts trouvés‘ ist ein Kühlschrank, dessen Inneres sie mit Blattgold ausgekleidet hat. Mit dem ihr eigenen Gusto an Ironie hat die Künstlerin den modifizierten Frischhalteapparat „Irische Butterecke“ genannt. Wem der Witz des Titels nicht aufgeht, dem sei bei nächster Gelegenheit ein Blick ins Kühlregal eines Supermarkts empfohlen. Oder denken Sie an den nie veröffentlichten Werbeslogan „Was kaufen Max und Mary? Das fette Gold von Kerry!“

Ein abgelegter, aus der Zeit geratener Gegenstand dient nicht zuletzt als Grundlage für das knuffig schwarze Objekt neben der vorhin erwähnten Bodenarbeit. Sein Unterbau besteht aus einem ehemaligen Blumentischchen. Abermals werden Assoziationsketten in Gang gesetzt. Sie streifen die Nierentischseligkeit der 1950er-Jahre und führen weit zurück in die Antike: Saß nicht Pythia, die weissagende Frau des Orakels von Delphi, auf einem dreibeinigen Hocker, dem τρίπους, zu Deutsch: Dreifuß? Die dünn gedrechselten Möbelbeine des Tischchens fallen aber auch in die Kategorie der schmalen Dachlatten und dürren Hölzchen, die Kreusch zu filigranen, mitunter fast gefährdet wirkender Konstruktionen verarbeitet.

Von diesen Konstruktionen wiederum ist es nur ein Schritt zu Martin Heidegger und seinem Begriff des „Gestells“. „Gestell“ war Heideggers Synonym für die moderne Technik. Mit ihr, genauer: mit dem Verhältnis der Menschen zur Technik hat sich der Philosoph in einem mittlerweile berühmten Vortrag kritisch auseinandergesetzt. 1 Das war 1953, also just in der Epoche, als man im Design Nieren und andere organische Formen für besonders en vogue hielt.

Sie sehen, sehr geehrte Damen und Herren, rasch gelangt man von den Niederungen eines Blumentischchens in immer höhere Sphären. Das Motto dieser Ausstellung legt eine solche Dynamik allemal nahe: „Raum schwankt Himmel fährt“ - wo es derart schwungvoll zugeht, muss man ja beim Betrachten auf Touren kommen. Schon trifft der Blick auf die schockorangefarbene Kiste, die im profanierten Kirchenschiff zu schweben scheint. Und da erst vor einer Woche Pfingsten gefeiert wurde, mögen Reminiszenzen an die Apostelgeschichte aufsteigen, in der die Ausgießungen des Heiligen Geistes mit einem flammenden, lodernden Bild beschrieben werden. Es heißt dort, „es erschienen ihnen Zungen wie Feuer“. 2

Selbstverständlich geht es auch eine Nummer kleiner. Entledigen wir das neonorange leuchtende Objekt zunächst jeder weiterreichenden Bedeutung. Nehmen wir es einfach als Farbjauchzer, als visuellen Jubel, den Carolina Kreusch himmelwärts katapultierte. Auch auf den gelben Papiersegler, von dem eingangs die Rede war, möchte ich an diesem Punkt nochmals zu sprechen kommen. Denn bevor Sie sich daran machen, ihn mit dem Heiligen Geist in Verbindung zu bringen und als abstrahierte Darstellung einer Taube zur interpretieren, gilt es , seine ausstellungsstrategische Funktion ins Auge zu fassen. Was bewirkt das knallgelbe Objekt? Es lenkt - wie ein Marker - die Aufmerksamkeit auf eine Partie der Ausstellung, die in Anbetracht der ringsum herrschenden vitalen Farbkraft eventuell zu wenig Beachtung finden würde.

Pfeilspitz weist der gelbe „Segler“ auf eine Gruppe kleiner Zeichnungen. Die Blätter ähneln Konstruktionsplänen. Mit feinen Linien hat Kreusch dort Großformen zu Papier gebracht. Eins greift ins andere, einzelne Kompartimente sind teils ineinander verschachtelt, teils durch Schläuche, Kabel und sonstige Kommunikationskanäle verknüpft. Die minutiös aufgezeichneten Gebilde muten mitunter an wie Kombinationen aus Höhlensystem und Raumstation, kommen daher wie Hybride aus urzeitlicher Kaverne und High-Tech-Wohnkapsel.

Die Zeichnungen sind schon deshalb wichtig, weil in ihnen jene Programmatik durchgespielt wird, die Carolina Kreusch in ihren plastischen Arbeiten umsetzt. Die programmatische Linie, der sie dabei folgt, zielt auf Komplexität. Was Kreusch zeigt, sind Systeme wechselseitiger Abhängigkeit. In ihren Zeichnungen, mit ihren Objekten oder Installationen schildert sie Zustände, die auf dem symbiotischen Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren und Einflüsse basieren. Es sind Zustände oder eben Systeme, für die dieses Zusammenwirken Voraussetzung ihrer Lebensfähigkeit ist.

Bei den neueren, planen Bildtafeln veranschaulicht die Künstlerin Komplexität und wechselseitige Bedingtheit, indem sie etwa eine Vielzahl facettenartiger Farbflächen miteinander verzahnt.

Bei den Objekten und Installationen wiederum baut und bastelt, leimt und lackiert, verkantet und verknotet sie die Komponenten ihrer Arbeiten, bis sich die vorhin beschriebenen höhlen- und hüllenartigen Großformen herausbilden. Oftmals sind sie vernetzt, mit Seilen im Raum verspannt. Wie die bereits erwähnten Kabel, Schnüre, Schläuche sind das die Fühler, Antennen, Tentakel, mit denen eine Innenwelt zur Außenwelt Kontakt hält. Dass die Objekte eine Innenwelt zumindest besitzen könnten , signalisieren deren Öffnungen.

Ein solches Objekt mag einem vorkommen wie das gigantische Modell eines Herzmuskels mit Aorta, Hohlvenen, Lungenartierie und was da an Adern sonst noch ist. Das kann man schon deshalb so sehen, weil die Arbeiten von Carolina Kreusch dazu auffordern, sich eingängig mit den Dingen zu befassen, wenn man so will: zum Herzen der Dinge vorzudringen. Doch wer traut sich zu, ein Herz restlos zu ergründen. Auch davon sprechen die Werke der Künstlerin. So farbjauchzend sie vielfach sind - es bleibt ein Moment des Ungewissen, Dunklen, Unwägbaren.

Lassen Sie mich noch einmal den Bogen spannen zum Ort dieser Ausstellung. Die einstige Studienkirche hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Einer, der nach dem Brand von 1863 zur Neugestaltung der Stidenkirche beitrug, war Karl Klemens della Croce. Der Künstler ist heute allerdings weniger wegen seiner Malereien wie für die Kirche St. Joseph bekannt, sondern weil er zu den Pionieren der Daguerrotypie in Deutschland zählt. Dass er sich dieser damals neuen Technologie bediente, sagt etwas über sein Selbstverständnis aus. Karl Klemens della Croce sah sich offenbar als Bilderproduzent; das fotografische Verfahren der Daguerrotypie stellte gegenüber der Malerei eine Erleichterung dar. Im frühen 19. Jahrhundert waren Bilder rar - inzwischen werden wir von Bildern überflutet. Mithin hat sich auch die Rolle der Künstlerinnen und Künstler geändert. Gerade Carolina Kreusch macht das deutlich. Ihre ästhetische Praxis erschöpft sich nicht nicht in der Produktion von Bildern oder anderen visuellen Artefakten. In in ihren Zeichnungen und Objekten trägt sie dem Umstand Rechnung, dass die Welt monokausal nicht zu fassen ist. Kreusch ist eine hochsensorische Beobachterin die mit Witz und Ernst, mit Ironie und dem klarem Bewusstsein zu Werke geht, das alles, was wir für wahr und deshalb für unumstößlich halten, plötzlich ganz anders sein könnte. Dass auf einmal der Raum schwankt, und der Himmel, das einstmals feste Firmament, an dem die Sterne fixiert waren, in volle Fahrt gerät.


Anmerkungen


1 Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik, Vortrag in der Reihe „Die Künste im technischen Zeitalter“, TH München1953 


2 Apg 2,3