Rede zur Eröffnung der Ausstellung raum schwankt himmel fährt, Städtische Galerie Cordonhaus Cham


Felix Weinold, 2020


1969 erschien das gleichnamige Buch von Peter Handke. Der Autor benutzt darin Sprache in Form von Readymades, Collagen, konkreter Poesie und experimenteller Prosa. Ich sehe in seinem Umgang mit Text eine große Parallele zum Vorgehen von Carolina Kreusch mit Alltagsgegenständen und Baumarktmaterial. Hellmuth Karasek schrieb zum Erscheinen des Buches: „Jemand, der sich plötzlich in eine unbekannte, labyrinthische Gegend versetzt fühlte, in der nichts, aber auch gar nichts ihm vertraut vorkäme, hätte eine alptraumartige Erfahrung gemacht. Jemand, der in scheinbar vertrautester Umgebung auf einmal alles als unheimlich, unvertraut, fremd empfände, hätte eine noch mehr alptraumartige Erfahrung gemacht.“

Und genau das passiert, wenn man einen Raum mit Objekten von Carolina Kreusch betritt. Die Arbeiten sind nicht ausgerichtet an der Oberkante oder mittig, sie machen sich den Raum gefügig, erzeugen Anziehungskraft, ja man hat das Gefühl, sie hätten durch Gravitation und Zentrifugalkraft ein Beziehungsnetz ausgespannt, in das wir wie Astronauten geraten sind. Wir treten über die Schwelle, und sind schlagartig aus der Welt ins All katapultiert. Nicht zufällig ähneln manche Arbeiten Satelliten, andere im Raum treibenden Asteroiden.

Die Größenverhältnisse werden plötzlich unklar: ist das da in der Ecke ein kleiner Gegenstand, oder ist es eigentlich ein riesiges Objekt, nur sehr weit entfernt? Befinden wir uns in einem Modell, oder sind die Körper das Ding an sich? Je nach Antwort verändert sich auch unsere eigene Größe im Verhältnis zum umgebenden Raum.

Manche Objekte sehen aus wie fremdartige Raumfahrzeuge, haben Antennen oder Tentakeln, zur Kontaktaufnahme oder zum Entern. Diese Extremitäten zur Kommunikation lassen uns Strahlung, Kraftlinien, Energieströme, Funksignale vermuten, und damit ein Eigenleben, das aus Artefakten, also künstlich Hergestelltem, autonome Wesen macht. Um manche Arbeiten werden die Kräfte sogar als Linien sichtbar, Flächen werden mit Klebeband abgegrenzt und schraffiert, das Objekt greift sich Raum und steckt Claims ab.

Wenn wir aber bei der Wahrnehmung der Arbeiten den Maßstab ins Extreme verändern, vom interstellaren Raum zum Mikrokosmos, dann wandeln sich riesige Raumobjekte zu unter dem Rasterelektronenmikroskop betrachteten Kristallstrukturen, Kleinstlebewesen, Einzellern, Blutkörperchen. Die Außenwelt wird zur Innenwelt, der Raum schwankt. Wir als Betrachter sind plötzlich enorm geschrumpft, und spazieren in einer ungeheuer vergrößerten, normalerweise fürs bloße Auge kaum oder nicht wahrnehmbaren Welt. Auch unter diesem Betrachtungsmaßstab sehen wir uns, mit den bereits zitierten Worten Karaseks, „in eine unbekannte, labyrinthische Gegend versetzt, in der uns nichts, aber auch gar nichts vertraut vorkommt“.

Die Werke erzeugen Spannung aber nicht allein durch ihre Beziehung zum Raum, sei er nun groß wie Galaxien, sei er klein wie unter dem Mikroskop. Die Möglichkeit, in den Arbeiten extremste Gegensätze zu entdecken, finden sich auch bei ganz naher Betrachtung.

Vergleichen wir einzelne Objekte miteinander, so fällt auf, dass manche geradezu grob zusammengesetzt erscheinen, die in der Art ihrer Komposition aus Schollen und Bruchstücken an Caspar David Friedrichs Bild „Die gescheiterte Hoffnung“ erinnern. Sie sind gedeckt- und einfarbig. Andere sind aus feinsten Stäbchen aufgebaut, starkfarbige Wunderwerke, die komplexe nestartige Strukturen aufweisen. Extreme Spannung erzeugen die Komplementärfarben, die noch gesteigert sind durch die Verwendung der Leuchtfarbenvarianten: Rot/Grün, Orange- gelb/Blau. Dazu das Aufeinandertreffen von Leuchtfarben mit ihrem gedeckten Verwandten, die Kontraste von glänzend zu matt, opulent und futuristisch-barock zu karg und hermetisch.

Es lassen sich Gegensätze ausmachen zwischen technoid und lebendig, digital und analog; manche Oberflächen ähneln Haut oder tierischen Panzern, andere scheinen das Ergebnis von Technik, Ingenieurskunst und Forschung.

Besonders reizvoll sind die Trompe-l‘oeil-Effekte: flache Wandobjekte scheinen eine Faltung und Tiefe zu besitzen, aus der Wand herauszuragen; und die einzelnen Flächen wiederum haben durch die geschichteten Schraffuren eine eigene Scheinräumlichkeit, in deren Tiefe man durch die Farbgitter blicken kann.

In „Lenz“ von Georg Büchner äußert der Protagonist bei einem Gespräch über Kunst: „das Gefühl, dass was geschaffen sei, Leben habe, (...) sei das einzige Kriterium in Kunstsachen.“ Gute Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass man nach ihrer Betrachtung mehr sieht; dass man ein Stück wacher ist und aufmerksamer. Dass man durch sie Antennen entwickelt für Nuancen, die einem sonst verborgen geblieben wären. Dass sie unter verschiedenen Aspekten betrachtet immer wieder neue visuelle, intellektuelle und emotionale Erfahrungen ermöglicht.

Im Falle der hier gezeigten Arbeiten beispielsweise die Sensation von größtmöglicher Spannung, das Sichtbarwerden von Raum, die rasend schnelle Reise von der Innen- zur Außen- und zurück zur Innenwelt.